Zweifeln – eine Andacht für Mitarbeitende in der Jugendhilfe

Wir befinden uns im Jahre 33 n. Christus.

Ganz Jerusalem hat die Kreuzigung und Auferstehung Jesu Christi miterlebt und freut sich.

Ganz Jerusalem? Nein!

Einer von Jesu Jüngern, der unbeugsame Thomas, zweifelt an den Erzählungen seiner Freunde.

Und er hört nicht auf, ihren Schilderungen mit Vorsicht zu begegnen.

Und er sagt: »Das glaube ich nicht, es sei denn, ich sehe die Wunden von den Nägeln in seinen Händen, berühre sie mit meinen Fingern und lege meine Hand in die Wunde an seiner Seite.«

Acht Tage später, die Jünger und Thomas alle in einem Haus versammelt, da kommt Jesus, als die Türen verschlossen waren, und tritt mitten unter sie und spricht: „Friede sei mit euch!“

Dann sagte er zu Thomas: »Lege deine Finger auf diese Stelle hier und sieh dir meine Hände an. Lege deine Hand in die Wunde an meiner Seite. Sei nicht mehr ungläubig, sondern glaube!«

»Mein Herr und mein Gott!«ruft Thomas aus.

Da sagt Jesus zu ihm: »Du glaubst, weil du mich gesehen hast. Gesegnet sind die, die mich nicht sehen und dennoch glauben.«

So ähnlich steht die Geschichte vom so genannten ungläubigen Thomas im Johannes-Evangelium.

Und manche haben es erkannt, ich habe sie ein wenig im Stil der Asterix-Comics gehalten.

>>Wir befinden uns im Jahre 50 v.Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt… Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.<<

Asterix und Obelix, die beiden Bewohner eines gallischen Dorfes, das sich nicht damit abfindet, dass ihr Land von Römern besetzt ist.

Die mithilfe eines Zaubertrankes, der ihnen Stärke gibt, den Römern immer mal wieder eine ordentliche Tracht Prügel verpassen. Um dann weiter ungestört ihrem Tagewerk nachzugehen, und vor allem ausgiebig zu feiern.

Warum ist mir gerade Asterix eingefallen bei der Beschäftigung mit dem Text von Thomas dem Zweifler?

Ich denke, es ist, weil sich beide nicht einfach mit etwas abfinden. Bei Asterix ist es die Herrschaft der Römer. Bei Thomas ist es das, was ihm seine Freunde sagen:

Jesus lebt! Er ist auferstanden und wir haben ihn gesehen.

Ich finde es ist eine total sympathische Haltung, wenn man NICHT immer sofort alles glaubt. Wenn man sich NICHT mitreißen lässt von Emotionen oder Gefühlsausbrüchen.

Ich könnte mir vorstellen, dass Thomas erst mal gedacht hat: Die sind ja übergeschnappt! Die verkraften gar nicht den Verlust!

Hier und heute würde man vielleicht andere Worte dafür wählen. Wahnvorstellungen, Psychose, Zustand nach Posttraumatischer Belastungsstörung, Dissoziativer Zustand.

Wie dem auch sei: Thomas hat so seine Zweifel an dem, was die Freunde ihm sagen. Aber er bleibt trotzdem bei ihnen. Er zieht sich nicht zurück. Er hat Zweifel am Wahrheitsgehalt der Worte. Aber keinen Zweifel daran, dass sie seine Freunde sind.

Vielleicht denkt er auch: so wie die drauf sind, da brauchen sie einen guten Freund. Ich kann sie jetzt nicht allein lassen! Die Zweifel an dem, was ihm berichtet wird, führen nicht dazu, dass er den Menschen, der es berichtet, loslässt.

Und da sind wir in der Gegenwart angekommen: Wie viel von dem, was uns Mädchen erzählen, glauben wir unvoreingenommen.

Also bei mir ist es ungefähr die Hälfte! Ich zieh von allem, was mir erzählt wird, erst mal 50 % ab. Nur wenig von dem, was bei den Mädchen als Gemeinheit ankommt, war auch wirklich fies und ungerecht. Meist ist doch einiges übertrieben. Aber das heisst ja nicht, dass sie lügen.

Im Regelfall glauben wir ihnen nämlich die Gefühle, die dahinter stehen: die Angst, die Ohnmacht, die Wut, den Schmerz.

Obwohl, manchmal ist auch das eher schwer zu glauben. Nur eines tun wir eigentlich immer: wir glauben, dass die Mädchen unsere Hilfe brauchen. Egal wie seltsam und anstrengend sie auch sein mögen. Ob sie uns belügen oder die Wahrheit vorenthalten. Wir zweifeln nicht daran, dass sie uns brauchen.

Da sind wir so wie Thomas:

Für ihn war die Euphorie seiner Freunde bestimmt ebenso seltsam, wie es für uns ist, wenn ein Mädchen aus heiterem Himmel einen hysterischen Anfall hat, oder völlig konfus wird und sinnloses Zeug redet oder angetriggert in eine Schockstarre fällt.

Und genauso wie er, gehen wir dem Ganzen auf den Grund. Wir finden uns nicht ab. Wir bleiben nüchtern und wachsam und lassen uns nicht von irgendjemandem überzeugen.

Nein, es braucht eine gewisse Autorität, damit wir überzeugt werden. In Thomas‘ Fall ist es  Jesus selber, der nach seiner Auferstehung zu Thomas geht.

Und er fordert ihn wirklich auf: Nimm deine Hand und lege sie auf meine Wunden. Jesus selber hat überhaupt keine Probleme mit Zweifeln. Er hat auch keine Probleme mit Zweiflern. Denn Zweifel gehören zu Glauben. Das ist eine alte Binsenweisheit. Aber trotzdem wahr:

Zweifeln bedeutet ja nicht, dass man etwas ablehnt oder negiert. Sondern das Zweifeln ist eine Art abwägen: Ich habe zwei Möglichkeiten. Und ich wiege ab, was für die eine und was für die andere Möglichkeit spricht.

Übrigens ist das auch sehr subjektiv: Manchmal zweifelt man an etwas, dass man eigentlich glaubt, aber wenn man zugeben würde, dass man es glaubt, dann hätte das Konsequenzen! Dann müsste man sich vielleicht ändern, vielleicht eine radikale Unstellung im Leben vollziehen…

Diese Art der Zweifel kennen wir auch: Oftmals aus den Schilderungen der Mädchen. Wenn ihnen in der Familie nicht geglaubt wird. Weil das zu schreckliche Konsequenzen für die Familie hätte, werden die Aussagen der Mädchen angezweifelt. Und dann wird abgewogen, was schlimmer ist. Und oftmals wird das Schicksal der Mädchen gegen das Schicksal der Familie aufgewogen. Und die Familie für schützenswerter gehalten.

Aber wir kennen es auch aus unserer eigenen Arbeit. Wenn uns Ungerechtigkeiten berichtet werden, aus der Schule, von Streit zwischen Mädchen oder anderes… Und dann wird abgewogen, ob das, was uns berichtet wurde, wohl tatsächlich geschehen ist.

Und auf die eine Seite der Waagschale legen wir die Erzählung des Mädchen, und auf die andere Seite kommt, meist ohne dass wir es wirklich merken, das, was dann an Arbeit auf uns zu kommt: die Klärungsgespräche, die Sozis, die durchgesetzt werden müssen, Berichte, die geschrieben werden müssen…

Manchmal ist es aber auch andersrum. Man ist auf der Suche nach der Wahrheit, vielleicht nach einer Erklärung für etwas Unverständliches, nach einer These, die es leichter macht, etwas Merkwürdiges einzuordnen. Und dann möchte man nur zu gern Beweise dafür haben. Und sucht händeringend nach:

Auch das kennen wir von den Eltern unserer Mädchen: Eltern, die jeden Strohhalm ergreifen, um seltsames Verhalten ihrer Töchter erklären zu können.

Borderline? Gefangen im falschen Körper? Hyperaktiv? Hochbegabt? Indigo-Kind?

Sie möchten irgendeine Erklärung haben, die das Verhalten ihres Kindes erklärt, und die ihnen erlaubt, eine Lösung dafür zu finden. (und vielleicht auch ihre eigene Verantwortung abgeben zu können…)

Manchmal tappen wir auch selber in diese Falle. Es gibt Mädchen, die sind besonders schwer auszuhalten. Bei denen funktionieren unsere Denk-Konstrukte und Theorien einfach nicht so. Aber wir brauchen doch irgendeine Idee, an der wir uns festhalten können. Und wir möchten gerne Klarheit haben. Wir können einfach nur ein gewissen Maß an Ungewissheit aushalten.

Und Mädchen, die wir nicht einschätzen können, bereiten uns ein Unbehagen. Einen klaren Weg zu haben und auf mögliche Eventualitäten vorbereitet zu sein, das liegt uns näher.

So ähnlich stellt sich das wohl auch Thomas vor: Wenn ich Jesus sehe, dann lege ich erst mal meine Finger in seine Wunden, und wenn sie echt sind, dann glaube ich.

Seltsam nur: das geschieht nicht! Jesus kommt auf Thomas zu und fordert ihn auf, es zu tun. Aber mit keinem Wort wird erwähnt, dass Thomas das tatsächlich gemacht hat.

Es gibt Wahrheiten, die erschließen sich ohne Beweise. Manche Dinge glauben wir, ohne dass wir dafür rationale Argumente haben müssen. Und damit sind wir am Kern dieser Geschichte angelangt: Wir müssen hier in diesem Haus oft abwägen zwischen Wahrheit und Unwahrheit.

Aber sehr oft ist es schwer, die Grenze zu ziehen, zwischen richtig und falsch. Zwischen Realität und Wunschdenken. Manchmal können wir uns nicht mehr auf unsere eigenen Fähigkeiten verlassen.

Dann ist es gut zu wissen, dass es Gott gibt, auf dessen Hilfe wir uns verlassen können. Hilfe, die so aussieht, dass wir weiter mit einem Mädchen arbeiten und leben können, auch wenn wir sie nicht einschätzen können. Auch wenn wir Zweifel daran haben, ob ob das was von ihr kommt echt ist.

Oder auch Zweifel daran, dass sie bei uns richtig ist und wir ihr helfen können. Unsere Arbeit ist schon schwer genug. Wir dürfen uns ruhig von Gott unsere Zweifel daran nehmen lassen.

Gott hat uns zugesagt, dass er bei uns sein wird, und uns bei unserer Arbeit helfen wird und darauf dürfen wir vertrauen. Amen